Zum Anteil der Massenmedien an der perversen »Normalisierung« des Krieges

Picasso-Friedenstaube.

In Umfragen spricht sich eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen die Beteiligung der Bundeswehr an den Kriegen nach 1989/90 aus. Gleichzeitig geben jedoch ca. 90% der WählerInnen den Parteien ihre Stimme, die deutsche Beteiligung an militärischer Gewalt an der Seite von NATO-Bündnisspartnern als Gebot der Humanität verteidigen. Wie kann man diesen anscheinenden Widerspruch verstehen?

Der Medienanalytiker Jürgen Link zeigt in seinem Vortrag, wie die bild- und sprachmächtigen Massenmedien dazu beitragen, dass die zerstörerischen Auswirkungen militärischer Interventionen für die Menschen und das menschliche Zusammenleben »unsichtbar« werden. Das Bewusstsein von der verfassungs- und völkerrechtlichen A-Normalität von Krieg wird durch Sprachregulierung, Bild- und Faktenauswahl unmerklich »zum Verschwinden gebracht«. Wie können wir dieser »Normalisierung des Krieges« widerstehen?


1. 

Ausgangspunkt ist das Rätsel, warum etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung bei Umfragen den Afghanistankrieg ablehnen und für den umgehenden Rückzug der Bundeswehr eintreten, bei Wahlen aber gleichzeitig bekanntlich zu etwa 90 Prozent Pro-Kriegsparteien wählen. Offenbar handeln sie nach einer Logik der »gespaltenen Normalität«: Sie wählen im Sinne einer Heimat-Normalität und spalten den Krieg davon ab. Dazu die folgenden Überlegungen.


2. 

Ich möchte zeigen, dass bei dieser Spaltung der Normalität insbesondere die Massenmedien eine entscheidende Rolle spielen und dass sie zwei verschiedene Begriffe von »Normalität« verwenden und vermischen. Ich unterscheide einen legitimen und einen perversen Normalitäts-Begriff. Kinkel-Zitat als Beispiel für den perversen.


3. 

Zum legitimen Normalitäts-Begriff: Moderne Gesellschaften sind verdatete Gesellschaften, die sich statistisch transparent machen, um ihre Massendynamik regulieren zu können. »Normal« ist jedes massenhafte, statistisch durchschnittliche Verhalten, das ohne radikale Änderungen fortgesetzt werden kann. Normaler Lebensstandard, normaler Konsum, normale Sexualität usw. Anormal ein Verhalten, dass aus einer solchen Normalität herausfällt wie zum Beispiel Drogenkonsum oder Kindesmissbrauch.


4. 

Krieg ist in diesem Sinne niemals normal. Kriegszustand ist Ausnahmezustand, also Zustand allgemeiner Anormalität. Krieg kann und soll ja nicht endlos fortgesetzt werden, sondern möglichst bald von einem Zustand legitimer Normalität beendet werden. Der Begriff eines »normalen« Krieges ist also pervers. Wie kann dieser perverse Begriff und wie kann diese Spaltung der Normalität funktionieren? Das geht nur in Fällen, in denen der Krieg die »Heimat« der einen Seite, der einen kriegführenden Partei nicht direkt berührt, also »hinten fern in der Türkei« stattfindet, wie es im »Faust« heißt. Der Grundtyp dieses pervers-,normalen« Krieges ist der alte Kolonialkrieg und der neue Neokolonialkrieg bzw. der neueste Weltjunta-Interventionskrieg.


5. 

Hier zeigt sich wieder die Schlüsselrolle der Massenmedien: Sie verweigern beim Weltjunta-Interventionskrieg die normalistische Transparenz. Was heißt normalistische Transparenz? Es bedeutet die Sichtbarmachung wichtiger statistischer Daten und Situationen. Die große Macht der Medien besteht in ihrer Fähigkeit, sichtbar oder unsichtbar zu machen. Das fängt also mit der Verdatung und Statistik selbst an: Was die Erhöhung der Arzthonorare oder die Reform von Hartz IV den Steuerzahler kostet, stellen die Medien sofort mit Schaubildern und kleinen Videos heraus – was der Afghanistankrieg bisher gekostet hat und täglich weiter kostet, selten oder nie. Wieviele Luftschläge in Afghanistan bisher schon geflogen wurden und wöchentlich weiter geflogen werden – wieviele Drohnen dabei eingesetzt wurden und weiter werden – wieviele eindeutig zivile Opfer bisher insgesamt getroffen wurden und wöchentlich weiter werden – all das wird nicht in Schaubilder und Kurven bzw. exemplarische Fotos und Videos umgesetzt wie der Benzinpreis. Dabei hätten die Medien durch Wikileaks so genaue Daten, wie es sie noch von keinem noch andauernden Krieg in der Geschichte gab. Dieser normalistische Blackout, dieses Unsichtbarmachen statt Sichtbarmachen, der Medien über den Krieg ist also ihr erster Beitrag zur perversen »Normalisierung« des Krieges.


6. 

Noch wichtiger sind aber die folgenden aktiven Beiträge:


– a) die perverse »Normalisierung« der Luftschläge. 

Bekanntlich führt die Weltjunta ihre Interventionskriege strategisch und taktisch dominant mit der Luftwaffe. Als erstes stellt sie jeweils das Luftwaffenmonopol her (wie jetzt gerade wieder in Libyen). Sie führt dann angeblich sogenannte »chirurgische Luftschläge« mit Bomben und Raketen, angeblich niemals gegen Zivilisten und angeblich sogar nur zum Schutz von Zivilisten. Dass es sich dabei um eine pervers-lügenhafte »Normalität« handelt, zeigt schon die genuin normalistische Statistik: Würden auch 90% der Bomben und Raketen tatsächlich »chirurgisch« militärische Ziele treffen, was natürlich total übertrieben ist, dann würden bei rund 50.000 Einsätzen wie 1999 auf dem Balkan bereits 5.000 Einsätze sogenannte »Kollateralschäden« anrichten. Wer noch nie ein Bombardement erlebt hat, kann sich nicht einmal die Wirkung einer einzigen Bombe oder Rakete vorstellen – geschweige denn die von 5.000. Es wäre aber die normalistische Aufgabe der Medien, die notwendige Fantasie für den Horror des Luftkriegs herzustellen. Also sichtbar statt unsichtbar zu machen. Warum sie es nicht tun, kommt gleich im nächsten Punkt. Hier zunächst noch eine letzte Tatsache: Selbst wenn die »chirurgischen Luftschläge« zu 100% träfen, bliebe noch der 100 und 1.000fache Kindesmissbrauch. Bei einem Amoklauf oder auch bloß bei einem größeren Verkehrsunfall rücken sofort ganze Brigaden von Psychologen und Seelsorgern an, um besonders die Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen zu behandeln und nach Möglichkeit zu verringern. Bei Kindesmissbrauch findet das sogar oft noch Jahrzehnte später statt. Das ist normalistisch konsequent, weil solche Traumatisierungen die Folge des totalen Verlusts der Normalität, der totalen Denormalisierung sind. Bei Luftschlägen in urbane Zonen hinein wie gerade wieder in Tripolis, aber auch in Afghanistan und Pakistan, werden die Kinder, die den Explosionen in nächster Nähe ausgesetzt sind, und das über Wochen, Monate oder Jahre wie in Afghanistan, aufs schwerste traumatisiert. Ihr Reizschutz, wie Freud es nannte, wird fürs Leben durchschlagen. Diese hochgradige Denormalisierung wird uns mit der Floskel »Schutz der Zivilisten«, »chirurgische Schläge« in perverser Weise unsichtbar gemacht.


– b) Wie ist das möglich?

Durch das mediale Management von Feindbildern. Vor ihrer Beteiligung an der Weltjunta hatte die Bundeswehr eine Reklame, die sagte: »Feindbilder sind die Väter des Krieges – darum haben wir keins.« Das »ist Geschichte«, wie es heißt. Man kann das Leid der von der Weltjunta absichtlich oder bloß mit statistischer Notwendigkeit bombardierten bzw. in Mitleidenschaft gezogenen Zivilisten und besonders Kinder nur dadurch unsichtbar machen, dass man das Leid der vom Gegner betroffenen Zivilisten sehr sichtbar macht und dass man statt der eigenen »unschuldigen«, wie es heißt, Opfer bloß den Feind selbst, also das Feindbild, ungeheuer sichtbar macht. Also sehen wir Massakerbilder der Opfer des Feindes – ich nenne stellvertretend das Bild der Afghanin mit der abgeschnittenen Nase auf dem Cover von Time Magazine – aber keine Bilder der Opfer von Massakern der Weltjunta (etwa der Opfer des Tanklasterluftschlags von Yakob Baj bei Kundus). Und also sehen wir vor allem Karikaturen einschließlich karikaturartiger Fotos der sogenannten »neuen Hitlers«, der Saddam, Milosevic, jetzt wieder Gaddafi usw. Das erweckt den Eindruck, als träfen die Luftschläge nur diese »neuen Hitlers« – was wiederum schon rein statistisch absurd ist. Wir kennen alle das Argument, dass die von der Weltjunta getroffenen Zivilisten vom Feind als »Schutzschilde« oder »Geiseln« genommen worden seien. Die Feindbilder der »neuen Hitlers« sind genau solche perversen »Schutzschilde«, die im Riesenformat über die als Geiseln der Weltjunta genommenen Zivilisten der Gegenseite gemalt werden, woraufhin sie bombardiert werden können.


– c) Feindbilder sind entweder Subjekte oder keine Subjekte. »Wahnsinnige« bzw. »Irre« sind keine autonomen Personen, sie sind juristisch nicht zurechnungsfähig, man kann mit ihnen also nicht verhandeln. Alle »neuen Hitlers« werden als solche »Wahnsinnigen« dargestellt, auch wenn man sie jahrelang als zurechnungsfähige Subjekte anerkannt hat, als es galt, Ölverträge mit ihnen abzuschließen. Symbolisch sind solche »Irren« so etwas wie Naturkatastrofen, für die die symbolische Feuerwehr, also die Weltjunta, zuständig ist. Noch weniger Subjekt sind aber Guerillakämpfer wie die Taliban, die nicht einmal von einem »neuen Hitler« übermalt werden können. Sie sind symbolisch einfach eine Art ansteckende Krankheit, eine Pest, die es zu »eliminieren« gilt. Mit Vorliebe ohne sie anzufassen, also aus der Luft und noch lieber mit Drohnen, die von Texas aus von »normal« ihren Dienst absolvierenden Computersoldaten auf die afghanischen Dörfer gesteuert werden. Manche Afghanen, selbst Talibangegner, finden das »feige«. Das zeigt, dass sie vormodern sind und die Aufklärung versäumt haben.


7.

Appell »Heraus aus der Sackgasse in Afghanistan«.




Prof. em. Dr. Jürgen Link
Redebeitrag für den
Ostermarsch Ruhr
2011 in Bochum
Quelle: Netzwerk Friedenskooperative



Jürgen Link, Diskursanalytiker und Autor des Ruhrgebiets-Romans »Bange machen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee«, Assoverlag 2008.