Mut, Mission

Gedenkstätte Chatyn


Sie kamen am frühen Nachmittag, umzingelten das Dorf, trieben die Leute in ihre hölzernen Häuser und zündeten sie an. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen – 152 Menschen, darunter 76 Kinder. Es war der 22. März 1943. Das Dorf hieß Chatyn, lag 60 km nördlich der belorussischen Hauptstadt Minsk. Und es war nur eins von insgesamt 609 belorussischen Dörfern, die auf diese Weise »behandelt« wurden.

Nein, es wurde nicht vergewaltigt, und es wurde nicht vertrieben. Es wurde bombardiert, gebrandschatzt, erschossen, gehängt, und wer in Lager verbracht wurde ging durch den Schornstein, bekam den Gnadenschuss oder wurde bei lebendigem Leibe in Erdgruben verscharrt. Geschätzte 200 000 aus dem Ghetto von Lodz, akribisch gezählte 33 771 in 36 Stunden am 29. und 30. September 1941 in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew, 250 000 im Lager Sobibor bei Lublin, 5 000 noch im Januar 1945 am vereisten Bernsteinstrand von Palmnicken bei Königsberg, zum Beispiel.

Und es war nicht »die SS«, wie immer wieder erklärt wird. Es waren uniformierte deutsche Männer, Familienväter. Und sie taten es bedenkenlos, wenn nicht gar mit Lust. Denn sie sahen sich in einer hehren Mission. Für Führer, Volk und Vaterland, im Kampf gegen das jüdisch-bolschewistische Untermenschentum. Und die, die sie dann bei Stalingrad stoppten und in opferreichem Kampf bis nach Berlin zurückdrängten, waren konfrontiert mit dem, was unter dem Zeichen dieser Mission getan worden war.

Gedenkstätte Chatyn. Denkmal; Vater trägt seinen von den Faschisten ermordeten Sohn auf den Armen.Man habe ja nichts tun können, ließen die Beteiligten ihre Kinder später wissen, sonst wäre man selber dran gewesen. Und Fotos von »Volksverrätern«, die an Laternenmasten aufgeknüpft worden waren, belegen, ja, so ist das gewesen.

Aber war dem allen nicht eine Wahlentscheidung vorausgegangen, obwohl warnende Stimmen erklärt hatten: »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!«?

Und wäre das alles nicht zu bedenken, wenn gegenwärtig wieder das politische Gedöns darüber anhebt, ob der 8. Mai als »Tag der Befreiung« angesehen werden sollte oder als »Tag des Kriegsendes« oder besser noch als »Tag der Niederlage der deutschen Armee«?

Und wäre nicht auch zu bedenken, dass schon wieder ein deutscher Oberst, der sich in einem hehren Auftrag sah, in einem anderen Land Menschen hat in Flammen aufgehen lassen?

Kann man wieder nichts tun? – Doch man kann. Und es ist ganz ohne Gefahr. Einfach nur jene Politiker nicht wieder wählen, die ihre Hand dafür gehoben haben, dass die 142 Toten von Kundus möglich wurden und alle, die es noch geben wird, solange uniformierte deutsche Männer unter dem Vorwand ins ferne Afghanistan geschickt werden, dort im »Kampf gegen den islamischen Terrorismus unsere Freiheit zu verteidigen«.

Das zumindest wäre zu bedenken an diesem 8. Mai und immer dann, wenn sie uns von den Laternenmasten aus zulächeln und um unsere Kreuzchen buhlen, ehe diese nützlichen Einrichtungen wieder zu Mahnmalen gegen Mut und Zivilcourage umfunktioniert werden. …

 

Für die Friedensinitiative Bad Kleinen:
Horst Matthies, Schriftsteller, Hohen Viecheln
Gedruckt in »Neues Deutschland«
Sozialistische Tageszeitung 6.5.10

 


Horst Matthies, geb. 1939 in Radebeul, schreibt Hörspiele, Theaterstücke, Kinderbücher. Zuletzt veröffentlichte er die Romane »Ohne Hoffnung ist kein Leben« und »Peter Schwarzer. Ein Lebensbericht«.