Konni Schmidt schrieb diesen Aufsatz im Herbst 2007, nach der zweiten Europäischen Friedensradfahrt Paris – Moskau in Folge und vor den Präsidentenwahlen in Russland, vor dem Krieg in Geor­gien, vor der weltwei­ten Finanzkrise und schließlich vor den Wahlen in den USA. Sie kommen darin deshalb nicht vor. Die Situation hat sich aber nicht prinzipiell ge­än­dert, nur verschärft.

Russland ist anders

 «Ich weiß, dass
ich nichts weiß.»

Das ist wirklich beim nä­heren Hinsehen ein sehr kluger Satz. Auch wenn er uns überliefert wurde von einem griechischen Philosophen, der Agnostiker war. Das bin ich nicht.

Jeder Computeranfänger ist nach einigen Schritten stolz, was er schon kann und übersieht vielleicht schnell, was es da noch alles zu wissen gibt. Und sagt dann wie jener Ar­beitsamtsberater: »Seit ich einen zehnstündigen Computer­kurs absolviert habe, sehe ich die Notwendigkeit einjähriger Computerkurse doch sehr kritisch.«

Erst wenn man einen etwas tieferen Einblick in ein Wis­sensgebiet hat, wird man etwas bescheidener, weil man plötzlich sieht, was es da alles zu wissen gibt und dann sagt man respektvoll: Ich weiß, dass ich nichts weiß. So ähnlich ging es mir mit Russland. Erst beim zweiten großen Besuch wurde mir allmählich klar, wie komplex das The­ma Russland ist, dass es sich einem schnellen Zugang ver­schließt.

Russland ist anders

Wer die Schublade sucht, in die er Russland und Belarus einsortieren kann, wird vielleicht seine Vorurteile bestäti­gen, aber noch nicht einmal ahnen, in welchem Land er ei­gentlich gewesen ist. Deshalb nochmal: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Verlangt bitte von mir kein Urteil, sondern haltet euch selbst offen für dieses Land. So offen, wie diese Menschen – trotz al­lem, was gewesen ist – uns gegenübertreten.

Und zu dem was gewesen ist, ein paar Worte. Es gab in den 80er Jahren in den dritten Fernseh-Programmen eine Filmreihe »Der unbekannte Krieg«: Der Titel stimmt leider noch immer.

Inzwischen steht es immerhin unter Strafe, zu leugnen, dass sechs Millionen Menschen in Auschwitz und den anderen über 1000 Lagern umgebracht wurden.

  • Aber wer weiß eigentlich, dass in deutscher Gefangen­schaft, in den KZs mehr als drei Millionen sowjetischer Sol­daten ermordet wurden? Die Behandlung der sowjetischen Soldaten war so grausam, dass andere KZ-Gefangene Brotkrumen sammelten für ihre sowjetischen Mitgefange­nen.
  • Wer weiß, dass die belarussische Hauptstadt Minsk vor dem Krieg 250.000 Einwohner hatte, davon lebten nach dem Krieg noch 50.000.
  • Tausende Dörfer und Städte, über die der Krieg zweimal ging, wurden zerstört, dem Erdboden gleichgemacht, viele auch nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut, weil keiner zurückkehrte, der sie wieder aufbauen konnte.

Das ist den Menschen in Belarus und Russland viel ge­gen­wärtiger, als wir uns vorstellen können. Die von uns oft als Rituale gesehenen Gedenkveranstaltungen, Denkmale usw. sind in der Bevölkerung sehr tief verwurzelt, in allen Alters­gruppen und Bevölkerungsschichten.

Das hat der kürzliche Denkmalsstreit in Estland, der in ganz Belarus und Russland tiefe Empörung hervorrief, sehr deutlich gezeigt.

Russland ist anders

Unser Russlandbild (und das geht bis weit in die Linke, und in die Friedensbewegung) ist sehr einseitig.

Wir hatten uns irgendwie daran gewöhnt, dass es so oder so – als Kommunist oder als Anhänger einer westlichen Lebensweise – sehr einfach ist: hui oder pfui, je nach Standpunkt.

Das hat noch nie so ganz gestimmt, Jetzt aber ist es halt viel komplizierter geworden.

Die brutale Realität eines ungebremsten, kaum durch Ge­setze gezügelten Kapitalismus in Russland sehend, den Mangel an demokratischer Beteiligung oder auch nur Be­tätigungsmöglichkeit, trete ich dennoch ein – oder gerade deshalb – für eine friedliche Außenpolitik und eine Politik der Nichtein­mischung gegenüber Russland und vor allem auch Belarus.

Die Forderung von Kasparow, die EU solle mehr Druck auf Russland ausüben, habe ich in Russland nirgendwo ge­hört, im Gegenteil.

Lukaschenko, Putin, Nasarbajew als Schachfiguren der EU und der USA so hätten sie's gerne. Nur Lukaschenko will nicht mitspielen und Putin hat et­was an­dere Vorstellungen von seiner Rolle.

Russland ist anders

Unser Verhältnis zu Russland wird für unsere Außenpoli­tik, aber mehr und mehr auch für unser ganzes Selbstver­ständnis kon­sti­tutiv sein, es wird wieder die Frage sein, steuern wir auf einen kal­ten Krieg zu – mit der ständigen Gefahr eines heißen Krieges und allem anderen, was er an finsteren Begleiter­schei­nun­gen mit sich brachte – oder fin­den wir dieses mal einen Weg, den un­aus­weichlichen öko­nomischen Konflikt auf andere Weise auszu­tragen, ja so­gar fruchtbar zu machen.

Finden wir einen Weg des konstruktiven Miteinanders, statt des Nebeneinanders, öfter nur duldenden über- und Untereinanders verschiedener Kulturen? Eine positive Antwort darauf kann die internationale Friedensbewegung nur praktisch geben. Ob uns das gelingt, davon hängt un­ser Überleben ab. Oder wie sollen wir aus der Spirale der Gewalt und Armut herauskommen?

Der Konflikt mit Russland ist vorprogrammiert, trotz der Umwandlung Russlands in ein kapitalistisches Paradies (vgl. Elmar Altvater: »Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen«).

Die ökonomischen Gegebenheiten, unsere Energievergeu­dung bei gleichzeitig absehbarem Ende der Ressourcen, gepaart mit einer hemmungslosen Kriegsbereitschaft und einer Überlegenheitsideologie sind ein sehr gefährliches Gebräu.

Der Papst hat bei seinem Besuch in Österreich Jürgen Ha­bermas zi­tiert: »Die Idee der Menschenrechte leitet sich ab aus der Mo­ral des Judentums und der Gerech­tig­keit / Barmherzigkeit des Christen­tums. Zu die­sem Aus­gangs­punkt gibt es keine Alternative.«
Das klingt erstmal ganz sympathisch. Der Papst engagiert sich für die Menschenrechte und zitiert einen Linken.

Ich halte so eine Position für sehr, sehr gefährlich. Sie könnte abermals eine Überlegenheitsideologie begründen und – vielleicht nicht Dieselben – könnten daraus die Be­gründung basteln für die Notwendigkeit neuer Kriege. Aber es ist nicht nur gefährlich. Es ist auch falsch und un­gerecht.

Wir verwechseln immer wieder Realität mit idealtypischen Theorien.

Die christliche Theorie mag ja durchaus Aussagen zu Mit­menschlichkeit, Gerechtigkeit etc. enthalten, aber sie dien­te der Begründung der Kreuzzüge, der Unterwerfung der Sach­sen, der Inquisition und es ist unabweisbar, dass das Zögern im antifaschistischen Widerstand bzw. sogar weit­hin die kirchliche Unterstützung der Nazis mit der größeren geistigen Nähe (im Vergleich zur Alter­native – dem Kommunismus) begründet wurde.

Der ganze grässliche Kolonialismus, der Rassismus – noch heute sind fünfmal mehr schwarze Menschen in den USA eingekerkert als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, (pro 1000 Einwohner sind zehnmal mehr Menschen in den USA im Gefängnis als in Deutschland oder Russland) ist Teil unserer – westlichen – Realität. Nur wer diese Realität ausblendet, kann dem Christentum die Erfindung der Idee der Menschenrechte (oder zumin­dest ihrer Grundlagen) andichten. Das tut anderen Religionen ebenso unrecht wie insbeson­dere humanistisch basierten Weltanschauungen.

Russland ist anders

Ich erlebe sogar bei Menschen in der Friedensbewegung, dass sie unsere Vorstellungen von Demokratie und Men­schenrechten für alternativlos halten und dabei ebenso Guan­tanamo, Abu Graibh, Kinder- und Frauenhandel, Hartz IV und die ganze Unkultur in unseren Medien ein­fach für einen Moment übersehen und die Scharia (oder das, was wir uns darunter vorstellen) umstandslos der Bergpredigt gegenüberstellen.

Nur wer übersieht, dass die griechische Gesellschaft der Antike eine Sklavenhaltergesellschaft war, kann doch ernsthaft diese historische Phase als demokratisch bezeich­nen.

Auch heute sind weite Teile der Bevölkerung in der westli­chen Welt von demokratischer Teilhabe ausgeschlossen. Der letzte amerikanische Präsident wurde von nicht einmal 25 Prozent der Stimmberechtigten gewählt.

Der Bundestag beschließt mit 80-prozentiger Mehrheit den Ein­satz der Bundeswehr in Afghanistan. Laut stabilen Um­fra­gen sind 60 bis 80 Prozent der deutschen Bevölkerung dagegen. Trotzdem reden wir von Demokratie, die man in Belarus über­neh­men müsse.

Putin hat Frau Merkel ein paar gute Antworten dazu gege­ben, was nicht heißt, dass ich ihm da völlig beipflichte, es gibt Demokratiedefizite in Russland, aber diese Einseitig­keit und Überheblichkeit, die ist überhaupt nicht ange­bracht.

Die Menschen in Belarus und Russland sind uns sehr offen gegen­übergetreten. Oft hat man sogar den Eindruck, dass sie ein unrealistisches Bild vor allem von Deutschland ha­ben (»Eure Probleme hätten wir mal gerne«). Das ist ver­ständlich. Sie haben oft auch unrealistische Erwartungen über zu erwartende Hilfe und ehrliche Absichten der EU.

Aber gleichzeitig sind sie doch auch sehr stolz (mit Recht) auf ihre Aufbauleistung, auf ihre Kultur, auch auf ihre Ar­mee (deren Sieg über den Faschismus, aber auch die heuti­ge). Ein Vorfall, wie der Untergang der Kursk wird über das menschliche Leid hinaus als nationale Tragödie emp­funden.

Trotz der Entwicklung der letzten 15 Jahre: die russischen Menschen leben viel mehr für ihren Staat, den sie dennoch auch realistisch, manchmal resignierend sehen.

Russland ist anders

Den Titel für eine Vortragsreihe mit Bildern der Europäi­schen Friedensradfahrt Paris – Moskau »Russland ist an­ders« hatte ich eigentlich schon im Kopf während der zweiten Europäischen Friedensradfahrt 2007. Mich hatten die Vorurteile nicht weniger Teilnehme­rInnen und ihre Versuche, sie bestätigt zu bekommen, wo sie doch etwas an­deres beobachteten, erschreckt und ich hatte mir vor­ge­nom­men, meinen Bericht über die Frie­densradfahrt unter diesen Titel zu stellen und die Zuhörer und vielleicht zu­künf­tigen Teilnehmer zuallererst aufzufor­dern, sich zu öff­nen und ihre aus aktuellen Fernsehberich­ten und einer 45 Jah­re langen antikommunistischen Kam­pagne ent­stan­de­nen Vorurteile, ihr gesamtes negatives Russlandbild einer gründlichen Überprüfung zu unterzie­hen.

Viel später entdeckte ich in einer 1988 erschienenen Re­portage des Mitarbeiters der britischen Botschaft in Mos­kau Fitzroy Maclean »Portrait der UdSSR« diesen Satz als Zitat des russischen Schriftstellers F.I. Tjutschew von 1866. (Tjutschew war 20 Jahre in München als Diplomat)

und hier noch ein Zitat daraus:

»Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen,
gewöhnliches Maß misst es nicht aus:
Man muss ihm sein Besonderes lassen –
Das heißt, dass man an Russland glaubt.«

Ja, Russland ist anders.

Anders als wir es uns vorstellen, anders als es in unseren Medien gerade dargestellt wird, anders, als wir es erwarten, wenn wir dorthin fahren.

Einerseits ist Russland uns sehr verwandt: Christlich ge­prägt noch immer, gemeinsame Wurzeln und Geschichte, ein Land in dem die Deutschen, vor allem deutsche Kultur einen ungeheuren Respekt genießt.

Andererseits ist dieses riesige Land uns doch sehr fremd und verschließt sich jedem schnellen Urteil.

Diejenigen, die dazu gute Bücher geschrieben haben, ver­zichten denn auch auf Urteile und schildern es einfach – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. (z. B. Gabriele Krohne-Schmalz: Was passiert in Russland«)

Was uns von den Russen unterscheidet, ist so ein schnelles Urteil. Bevor wir überhaupt alles erfahren haben, ist unser Urteil schon fertig. Wir nehmen die Realität gar nicht mehr wahr, das Bild ist fertig, mehr müssen wir nicht wissen.

Die Russen wissen, wie die Realität ist, sie lassen sie so sein. Man kann das als Resignation sehen, manchmal ist es das auch. Das macht sie aber oft toleranter in einem durch­aus positiven Sinn.

Russland hat niemals ein anderes Land überfallen, um ihm seine Lebensart aufzuzwingen.

Wenn eines nach der Revolution von 1917 klar war – und mit Trotzki ja kontrovers geklärt wurde – dann war es dies, dass der Export der Revolution mit militärischen Mitteln nicht zu den Grundlagen sowjetischer Politik gehörte, was ihnen den Vorwurf des Verrats an der Weltrevolution ein­brachte.

Unser Umgehen mit Russland besonders in unseren Medi­en ist einfach inakzeptabel.

Man möge doch mal das Leben und die Rechte der russi­schen Frauen vergleichen mit einer Frau einer niederen Kaste in Indien.

Mit diesem Indien schließen die USA gerade Lieferverträ­ge über angereichertes Uran. Einen Report zu den Men­schenrechten und Lebensbedingungen in Indien habe ich nicht gesehen. Auch keine Beschwerde von Frau Merkel. Bei ihren Besuchen in Russland und China war das Pflicht. Wir werden es jetzt bei den kommenden olympischen Spielen wieder hören bis zum Abwinken.

Russland ist andersEs ist einfach ziemlich unintelligent, anderen Ländern un­sere – ja durchaus sehr mangelhafte Regierungsform – ein­fach überzustülpen. Das hat schon im Irak nicht geklappt und wer ehrlich ist, es war auch gar nicht die Absicht ge­wesen.

»Es ist was es ist, sagt die Liebe« (Erich Fried). Darf man Russland, wenn schon nicht Liebe, so doch Sympathie ent­gegen bringen?

Tschechow: »Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann kannst Du davon ausgehen, dass man es spä­testens im dritten Akt benutzen wird.«

Lasst uns die Gewehre von der Wand nehmen und zer­trümmern, so wie es die von der Ersten Friedensnobel­preisträgerin gegründete Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegs­dienst­gegner in ihrem Logo vormacht.

Die Friedensradfahrt Paris – Moskau fuhr zweimal 3600 km durch Europa mit ei­nem Transparent in russischer Sprache: »Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschis­mus – Frieden schaffen ohne Waffen.«

Völkerverständigung durch offene Begegnung, (z.B. gemein­sames miteinander Radfahren), Einsatz alternativer Energien, die unsere Welt nicht verbrauchen, sondern schonen.

Nur damit haben wir eine Zukunft.

Konni Schmidt
Herbst 2007


 

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